Goldmaria Sternenschweif
Das Leben zeigt sich durch die rosa Brille. Es ist warm und kuschelig, mit kitschigen Sonnenuntergängen, Feuerschalenabenden, guter Musik im Autoradio. Sanfter Wind, ruhiger Seegang, ich fühle mich getragen. So sehr, dass ich anfange, nach Abgründen Ausschau zu halten. Gleich passiert etwas, soviel Glücklichsein ist ungesund, das mag das Leben nicht, prophezeie ich mir. Doch (noch) passiert kein Übel. Ich mag mein Leben grad sehr, so sehr, dass ich beinahe vergesse, dass „geweckt – werden – und – nicht – wieder – Einschlafen – können“ vor der Türe scharrt. Dass das Kindergartenkind nach langen Tagen am müden Abend zum wilden Tiger wird, und faucht und kratzt und beisst. Dass ich einen gloriosen Velosturz hingelegt habe, und meine Beweglichkeit grad gar eingeschränkt ist. Eine Maus in unser Wohnzimmer eingebrochen ist und meine Yogamatte angeknabbert hat. Meine Mitte ins Rutschen kommt. Vielleicht fällt es mir auch einfach leichter, das Unbequeme mitzutragen. Es auszuatmen und weiterzuhumpeln. Die Momente zu geniessen, in denen ich vertraue und zutraue. Auf den ruhigen Seegang. Dem Kindergartenkind. Mir und meinem Schlaf. Ich arbeite an einem Buch, einem wundersamen Buch und lebe mit meinem inneren Widerspruch, denn auch wenn ich gerne jeden freien Moment dafür nützen möchte, lasse ich die Momente auch gerne verstreichen. Höchstens früh (zu früh) am Morgen, wenn mein Kaffee genau so dunkel ist wie die Welt vor dem Fenster, tippe ich und lese und überarbeite. Sonst geniesse ich die Zeit mit den Mädchen. Vielleicht, weil Lily oft im Kindergarten ist. Vielleicht, weil die Zeit mit ihnen mir grad so kostbar ist. Und ich darin zufrieden. Erste Blätter werden gelb, und Lily beschliesst, sich mit Siri anzufreunden. Hey Siri, hast du einen Bauernhof? Ich habe einen neben mir, einen mit Pferden. Hast du schonmal ein Pferd mit Glanze gesehen? Magst du lieber Kühe oder Pferde? Rate mal, was ist mein Lieblingstier?
Keine Antwort.
Hey Siri, wann gehst du eigentlich ins Bett?
Ich schlafe nicht.
Hey Siri, warum schläfst du nicht?
Ich habe keinen Körper.
Warum hast du kein Körper? Wie siehst du denn aus? Hast du dich schonmal im Spiegel gesehen? Gibt es dich nur einmal oder gibt es viele Siris auf der Welt?
Siri schweigt.
Hey Siri, was machst du am liebsten?
Ich gebe Tips. Frag mich mal, „wie kann ich die Erde retten“?
Magst du die Erde? fragt Lily
Stille.
Ich bugsiere die Mädchen in Richtung Bett und Siri atmet hörbar auf.
Am nächsten Morgen wünscht sich Lily Katzenklo in Endlosschlaufe. Das macht Siri zwar froh, keine unangenehmen Fragen heute, mich ehrlicherweise weniger. Es fällt mir jedoch immer noch leicht, Unbequemes auszuhalten, und selbst mit Müdigkeitssteinen im Bauch lebt es sich ganz ordentlich. Zwar verrutscht die Mitte ab und an noch, und ich werde knurrig. Zweimal geknurrt ist vierfach gefährlich, sagt der kleine Tiger in Lilys Hörspiel. Ich lerne weniger zu stillen, und einem wilden Tiger mit Stille zu begegnen, ohne doppeltes Knurren. Meistens, jedenfalls. Ich versuche meinen inneren Narrativ nicht zu sehr beim Wort zu nehmen, denn manchmal ist er so gar nicht hilfreich, flüstert mir bloss Unsinn ins Ohr, manchmal ist er nicht mal mein eigener, sondern irgendein übernommener, oder einer, den ich wem andichte. Er bestimmt jedoch, wie ich die Welt wahrnehme, wie ich eine Situation bewerte darauf reagiere, wie ich wilden Tigern begegne etwa, oder müden Kindergartenkindern. Sagen wir mal, rein theoretisch natürlich, dass nach einem langen Arbeitstag die beiden Mädels alle Fäden verlieren, sobald ich zur Tür hereinstolpere und sich auf einmal verhalten wie Matrosen auf Meuterei, was dann? Der Seegang geht über. Wenn ich mich nun davon leiten lasse, was wohl jetzt der hütende Schwiegervater denken mag, wird meine Reaktion anders ausfallen, und ich weniger gelassen bleiben können. Das alte Bild, dass ein Tauziehen mit den Kindern gewonnen werden muss, werfe ich heute über Bord. Kapitänsmütze richten, weitergehen. Ist es nicht verständlich, dass nach einem langen, fremdbetreuten Tag die Fäden fallen gelassen werden, wenn ich nach Hause komme? Und ist es nicht auch verständlich, dass ich nach einem langen Arbeitstag mit Hunger und Müdigkeitssteinen im Bauch gereizter reagiere als ich eigentlich möchte? Es gibt viele Wahrheiten und nicht alle Fäden müssen immer gehalten werden. Einatmen, ausatmen, Wolken weiterziehen lassen. Nach atemlosen Tagen schläft sich schlecht. Ich jedenfalls. Müde kann mein Narrativ grummlig werden, oder zu einem lauten, unkonstruktiven Stimmengewirr. Wenn ich sie vor die Türe stelle, klettern die Stimmen kurzerhand zum Fenster rein und diskutieren noch lauter, wie müde Kindergartenkinder. Hallo Freunde, hier gibts Kaffee und Gebäck, könnt ihr aber ein bisschen leiser sein? Draussen ist erstmals wieder Bise, kühl, und alles klar, und hell. Der Mond ist halb, und es wird früh dunkel und als ich mit den Mädchen einschlafe, spiegelt er sich zweimal im Schlafzimmerfenster. Drei Monde. Ich höre mir Neil Gaimans The Graveyard Book als Audiobuch an – perfekt. Perfekt für den Herbst, perfekt für die drei Monde, perfekt geschrieben, perfekt erzählt, einfach perfekt. Die Maus bricht wieder ein, tappt in keine Falle, auch in jene nicht, in der Himself ein Marzipanrüebli in Schnaps tunkte – da Mäuse gerne Schnaps mögen, meint er. Unsere Maus ist entweder abstinent oder sehr schlau, und ich nenne ihn Herr Möller. Mit ö. Wir kaufen uns einen alten Wohnwagen, rüsten ihn auf (ehrlich gesagt ist dies ganz klar Himselfs Projekt, er installiert eine Dusche und näht Kissenanzüge und streicht, und plant). Lily und ich sind für die Namengebung verantwortlich, und eigentlich ist auch dies allein Lilys Projekt – was hältst du von Goldmaria Sternenschweif? fragt sie. Gefällt mir sehr gut. Endlich sind Ferien, und wir ziehen los, langsam, mit Goldmaria im Schlepptau. Hier riechts nach Frankreich, ruft Lily im Engadin, bonjour! Die Tage sind hell und klar, die Berge uralt und kräftig. Auf den Wanderwegen ist fast schon Dichtestress, beinahe mehr Menschen als unter den Lauben sind unterwegs, und alle grüssen.






Der schrumpfende Gletscher macht mich nachdenklich und nachts liege ich in eingemummelt in Goldmaria, mit Daunenjacke unter Duvet, zwei Wärmeflaschen und kalter Nasenspitze. Rundherum nichts als die grosse Kälte, das Röhren der Hirsche, und die dunkle Nacht. Sonst ist es, bis aufs Röhren und Zähneklappern, sehr still. Ich wache immer wieder auf, schaue, ob alle noch gut zugedeckt sind, und höre den Hirschen zu, und dem Fluss. 5 Grad. Schlafen wie im gut eingestellten Kühlschrank, ich hoffe, dass ich nicht aufs Klo muss, beobachte Dampfwölkchen und den frühen Morgen. Draussen vergräbt ein Eichhörnchen Nüsse, Lily nennt ihn Edgar Sternenschweif. Ein Buchfink sucht nach Futter. Ich bin erstaunt, dass er einfach Buchfink bleibt, und nicht zu Karl Sternenschweif oder ähnlichem wird. Himself und ich trinken heissen Kaffee. Den Mädels sind die Nächte auch gar kalt, wir wollen zu Herrn Möller! parolieren sie. Edgar Sternenschweif guckt kurz zu uns rüber, hüpft dann weiter, schau wie flink er ist, zeigt Lily aus dem Fenster. Ich lese den Mädchen eine Geschichte vor; „Pitschi“, aktuell das absolute Lieblingsbuch der kleinen Fee. Die Sonne kommt und das Wasser direkt vom Gletscher, es ist eiskalt und hell. Rundherum Gebirgssteine, Kies und Sand, Arven und Lerchen. Die Mädels rennen mit ihren Schuhen durch Gletscherwasser, Socken nass, Hosenbeine nass, kein Gehör für mein passt auf, dass ihr nicht patschnasswerdet, aber mit viel Freude für die Steine und ihr Glitzern, und das Platschen wenn sie im Bergbach landen. Haben wir was falsch gemacht, dass sie so gar nicht hören? fragt Himself. „Die Hasenkinder sind folgsam, sie lassen ihre Mutter nicht zweimal rufen“, heisst es in Pitschi. Meine Ferienbubble platzt auf. Das alte Bild, dass Kinder „folgsam“ sein müssen, ist ein hartnäckiger innerer Narrativ, der sich nicht so leicht abschütteln lässt. Das Wasser rauscht. Helle Wolken ziehen am tiefblauen Himmel vorbei. Warum? Es gibt Orte, wo sie auf uns hören müssen, an einer befahrenen Strasse etwa, und das tun sie auch, aber hier? Hier sehe ich ihre Freude für die Steine und ihr Funkeln, für das eiskalte Gletscherwasser, für die Natur und das Leben überall rund um uns herum und das ist mir – hier und jetzt – genug. Wir fahren nach Hause. Da guckt Herr Möller frech hinter dem alten Schrank hervor – und das Spiel beginnt, das wir mittlerweile alle zu gut kennen. Das Wohnzimmer wird abgeriegelt, die Fee und ich verstecken uns in der Küche, Lily hält nach ihm Ausschau und Himself und jagt ihn hinaus. Terrassentür zu. Draussen funkelt schon die Nacht. Armer Herr Möller, rufen die Mädels. Mir tut er auch leid, zu gut sind mir die Nächte im „wohl kältesten Ort der ganzen Schweiz“ noch in Erinnerung. Die Mädels haben auf der Heimfahrt den halben Nachmittag verschlafen und so bleiben wir alle länger auf, und schauen uns „bake off“ an. Ich stelle mir vor, wie Herr Möller mit ö von draussen auf die Kuchen schielt. Der Alltag beginnt wieder. Ich höre auf, nach Unglück Ausschau zu halten. Dann sind die Nachrichten plötzlich voll mit schrecklichen Bildern. Es ist noch dunkel, doch ich kann nicht mehr schlafen, in der Nacht sind alle Geräusche lauter, und die Gedanken auch. Das Leben wird einige Schattierungen dunkler, der heisse, trockene Spätsommer wird zum kühlen, grauen Herbst, und Fragen tanzen im Herbstdunkel. Manchmal ist es so schwierig, die Welt auszuhalten und ihre Dunkelheit gleich mit. Ich muss aufhören, daran zu denken. Siri guckt mich stumm an. Frag mich, wie kann ich die Erde retten? Ich zünde eine Kerze an. Ein kleines Licht, nicht viel, aber immerhin.
Einen kleinen Gruß schicke ich Dir. Freue mich jetzt schon auf Dein Buch. Nun hüpf ich weiter – die Umzugskartons warten befüllt zu werden. Herzensgrüße Susanne
Gutes Packen wünsche ich dir! Vielleicht – Vielleicht – komme ich im November nach Hamburg – wenn ich es schaffe, eine Woche loszukommen hier