Wenn Ghrelin erwacht – und was Yoga mit Alltag macht

Der Titel klingt ein bisschen wirr, findet ihr? Was die Blockade so macht, fragt ihr? Und was das eine wohl mit dem anderen zu tun haben soll?

Blockade macht es sich gemütlich. Sie hat ihre Liebe für Mittagschläfchen und Erdbeerglace entdeckt und jeden Nachmittag trifft sie sich mit Herrn Eggenschwiler zum Kaffeeklatsch. Ihr gefällts gut. Jedenfalls schnarcht sie, und schmatzt, und bleibt. Wenigstens weiss ich nun, wie ich mich an ihr vorbeiquetschen kann. Indem ich meine Texte aus kurzen Handynotizen zusammenwürfle, nämlich – kurze Alltagsbeobachtungen. Ich stakse durch den Tag, mit Fernrohr und gutem Schuhwerk und so entstehen zusammengeschusterte Texte mit wilden Titeln. Auf dem Spielplatz, schreibe ich etwa.

Auf dem Spielplatz: der Schatten vom Drehseil sieht aus wie ein Spinnennetz. Teenager lungern bei den Schaukeln und hören laut Musik. Ich fürchte mich ein wenig vor ihnen. Mehr wohl vor der Zukunft, von unbekannten Einflüssen, fernen Nordwinden, sich ändernden Zeiten. Du wirst mit ihnen mitwachsen. Sei jetzt. Hier. Die Fee verliert eine Sandale und rennt einschuhig herum, Wespen verirren sich auf die gelbe Rutschbahn.

Später habe ich noch Sitzung; ich radle hin, links und rechts Felder, der Mohn blüht, rote und blaue Tupfer. Irgendwo Regen, doch über mir, zum Glück, ein blauer Himmel. Als ich nach Hause komme, sind die Mädchen noch wach. Ich erzähle die Bärengeschichten, dann will Golde über die Kälbchen sprechen, die geschlachtet werden und über die Welt, die kaputt geht. Wie weit kann ich sie beschützen? Die Mädchen und die Welt? Jetzt brauche ich noch Lars, meint sie und ich erzähle ihr die Geschichte vom kleinen Bären, der immer wieder nach Hause findet.

Kurz vor Nordpol schläft sie ein. 

Golde meint, ich sei eine Gorillamama. Ich nehme es als Kompliment, Freunde. Wie sonst? Die Spatzen sind laut. Mein innerer Kritiker auch, und – wie ich, schon früh auf den Beinen. Er findet alles scheisse.

Angst, Brummer! sagt die Fee und zeigt auf eine Riesenfliege. Draussen grasen Pferde. Ach Kind, da wirst du dich wohl dran gewöhnen müssen, murmle ich. Die Fee lernt sprechen. Jeden Tag serviert sie uns auf dem Silbertablett neue Wörter, Ameise! ruft sie etwa, oder Mozzarella! Das Neuste: Mama, dumm! Ach herrje. Golde klatscht in die Hände, und ruft: ein neues Wort! Sie führt eine Liste mit ihren eigenen. Meine neusten neuen Worte sind Jochbein und Erdbeer – Bellini, verkündet sie. Ich habe auch eines: Ghrelin. Ich mag solche Worte. Ghrelin. Homunkulus. Sie klingen wie eine Trollsprache, wie ein Geheimnis, wie ein Märchen, oder ein hungriger Geist. Passt. Denn Ghrelin ist scheinbar ein „Hungerhormon“. Er erwacht mitten in der Nacht, rumplig und knurrig. Mein Ghrelin sucht wahrhaft Nahrhaftes, für Körper und Seele.

Die Wohnung sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Zweieinhalbstunden später wähne ich mich gut aufgeräumt. Fünf Minuten lang, dann trudeln die Mädchen ein, fröhlich und mit Stallgeruch und sie wälzen sich wie zwei sehr müde Tornados einmal durch die Wohnung. Unordnung wirbelt auf. Sie baden. Der Sommerabend rutscht langsam in die Nacht. Grillen zirpen. Endlich sind die Spatzen ruhig. Die Fee schläft spät, mit Schoppen heute, dann dreht sie sich zur Seite. Freude und Traurigkeit hüpfen Hand in Hand. Noch immer Sommerabend – in mir, und um mich herum.

Tagsüber schlage ich mich mit Frau Blockade und dem allgemeinen Chaos herum, nachts hält mich eine Fee auf Trab. Mir wachsen graue Haare und Fältchen. Abwarten und Tee trinken, das kann ich gut. Dabei denke ich über heilige Zeiten nach. Zeiten, die man aus dem Alltag rauspoliert und die man sich schenkt, hier: einen Moment der Gemeinschaft, oder der Ruhe, bewusst gelebt. Ein kleiner Segen, eine Sandbank, mitten im Meer. Zeit, in der man sich nicht definiert, über Rolle nicht und Leistung nicht und schon gar nicht über das Bild von aussen. Meine Zahnärztin meinte neulich, zahnseidelen sei Zeit, die sie sich bewusst schenke – ich tue mir jetzt was Gutes – nur für mich. Eine weise Frau. Oder eine gute Zahnärztin. Wahrscheinlich beides. Jedenfalls seidele ich seither jeden Abend.Verordne mir Zahnseide und Zeit. Meist, indem ich meine Matte auszurollen. Manchmal ist sie mickrig abgeschränzt (die Zeit, nicht die Matte, die ist wunderbar und nebst Kaffee und Frau Blockade eine gute Freundin) – zehn Minuten vielleicht. Einatmen, Ausatmen, gut sein lassen. Yoga lebt sich sowieso gern im Alltag, glaube ich jedenfalls – denn es lehrt mich viel für Chaostage, für Feenächte und Fernrohrbeobachtungen:

-weiterzuatmen etwa, oder an meine eigene Kraft zu glauben – bei mir auf meiner eigenen Matte zu bleiben, mich weniger zu vergleichen, und weniger darauf zu achten, was die anderen tun oder lassen und welches Bild sie dabei abgeben – Unbequemes aushalten – Veränderungen wahrnehmen – Flexibel zu bleiben, und in Bewegung, meinen Panzer durchzuschütteln – Verbindung spüren – versuchen, mich zu sein, ohne mich über eine Rolle oder über eine Leistung zu definieren –spektakulär gewöhnlich –

Spektakulär gewöhnlich schöne neue Worte. Es ist mein Recht, spektakulär gewöhnlich zu sein! Ich fühle mich leichter – fast berühre ich die hohen, faulen Sommerwolken –

Ein Rabe krächzt. 

Eigentlich wollen meine Freundinnen und ich malen, doch wir sitzen auf dem Balkon und trinken Wein. Ghrelin grunzt zufrieden. Nachts schlafe ich unruhig (der Rotwein wahrscheinlich). Ausserdem ist Vollmond. Strawberry Moon. Staunen.

Der nächste Tag ist wieder Sommer, grosse Wolken, heiss, Erdbeeren, Schmetterlinge, am Abend Gewitter. Die Zeit ist eng und die Zeit ist weit und ich versuche, sie mit Nahrhaftem zu füllen, ich hoffe, dass Ghrelin heute genug bekommt.

Wir beobachten einen Reiher. Er stakst, sucht sich sein Frühstück, bisher noch erfolglos. Komm her, ruft Golde ihm zu, wie haben hier Spatzen. Ich schaue sie stirnrunzelnd an. Mir sind sie auch laut. Doch nie würde ich sie einfach so einem dahergelaufenen Reiher anbieten. Zum Glück stakst er davon, stoisch in den Tag hinein. Im Morgenlicht wirken die Bäume und Büsche wie Scherenschnitte.

Himself geht auf Bergtour. Er schickt mir Fotos, Heimweh und Fernweh. Geschenkte Zeit. Ein zusammengeflickter Text. Ein tiefsatter Ghrelin.

Habt’s gut – mit all euren Ghrelins und euren heiligen Zeiten

xx

Hier noch Himselfs Bergbilder. Sooo schön, findet ihr nicht auch?

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