Von der Kunst, sich zu Hause zu fühlen

Ich könnte mit dem 200 Seelendorf beginnen, in dem ich aufgewachsen bin, ein Tal eher als ein Dorf. Mit Bergen. Mit meiner Familie, mit meinen Herzensmenschen. Mit der ersten Wohnung, die ich mit meiner damals allerbesten Freundin der Welt teilte, und die etwas seltsam roch. Die Wohnung, meine ich, nicht die Freundin.

Vielleicht könnte ich zuHausefühlen mit einem Geräusch beschreiben, dem Knarzen eines alternden Holzhauses etwa, oder dem Rauschen in einer alten Weide. Einem Geruch vielleicht, dem nach Lasagne und Sonntag, nach Harz und dunklen Tannen, nach Schnee. Mit Erinnerungen: butterbestrichene Reiswaffeln zum Zvieri, wir Kinder aus Bullerbü, gelbe Vorhänge, Zwergenhäuser bauen, Tannzapfen sammeln, ein kleiner Bach und ein Feuer. Wald.

Wald auf zwei Kontinenten. Wald, Wald und nochmals Wald. Fette, freche Eichhörnchen, das Gejaule von Kojoten und sogar mal ein Schwarzbär, der durch den Wald hinter dem Haus streifte. Ein weiter Himmel und verlassene dirt roads, auf denen der Staub wirbelte und den wir aufwirbelten, wenn wir drüberfuhren, auf dem Weg in den nächstgelegen, größeren Ort. Wir wollten mehr Welt und wussten außerdem, wo auch unter 21-Jährigen ausgeschenkt wurde. Manchmal sahen wir ein Reh im Scheinwerferlicht, und hohe Bäume. Sonst war die Nacht sehr dunkel und darin leuchtete die Milchstraße hell. Ich beobachtete den Mond beim Wachsen und Schrumpfen, mal war er voll, und dann wurde er wieder zur Sichel, a wie abnehmend. Im Herbst färbte sich der Wald rot und gelb und braun, wie ein bunter Hund, im Winter sanken die Temperaturen um minus 23 Grad. Draußen trocknete die Wäsche innerhalb kürzester Zeit, so krisp war es. Einmal, als wir vom Kino heimfuhren, gerieten wir in einen Schneesturm. Kalte Finger, kalte Nasenspitze und wieder das Gejaule von Kojoten in der Nacht.

Beim See stand ein kleines Saunahaus, manchmal schlugen wir ein Loch ins Eis, feuerten ordentlich ein, überall war Rauch und Eiskälte, und Van Morrisons Moon Dance. Der Mond zeigte sich als Sichel, c wie cunehmend. Wenn es noch kalt war, und Atemwölkchen beinahe einfroren, die Tage aber bereits länger wurden, wurden Löcher in Bäume gebohrt und kleine Eimer daran montiert. Der Saft kehrte in die Bäume zurück. Wir bedienten uns daran. Mit dem Frühling kam eine fast überwältigende Grünheit in den Wald zurück, Vogelgezwitscher auch, und dann endlich die Wärme. Meine Freundin und ich rauchten abends hinterm Haus heimlich Zigaretten, dann steckte sie sich ein Ricola in den Mund, weil ihre Eltern den Rauch nicht riechen sollten. Falls meine Mädels irgendwann ricolariechend nach Hause kommen, werde ich bestimmt misstrauisch schnuppern. Und noch heute, beim Geruch von Ricola (wer hat’s erfunden?) fliegen meine Gedanken nicht zu Alpenkräutern, sondern direkt in einen nordamerikanischen Wald und zu einer Freundschaft, die tief war und echt. Überall auf der Welt gibt es etwas, das man beschützen will. Der Hudson River war nah, und die Grenze zu Massachusetts auch, und dort gab es mehr Antiquitätengeschäfte und weniger Heilsarmeeläden. Dort waren im Kino die Sitze weich und bequem, mit Samtbezug. Manchmal fuhren wir mit der Metro North nach NYC, zur Grand-Central-Station, dann zu Fuß quer durch Manhattan, oder auch dann und wann mal nach Brooklyn, dem zu Hause einer Freundin. Ich war jedes Mal froh, wenn ich wieder in den Zug steigen konnte, zurück über Harlem, White Plains, weg aus dem Lärm und den Leuten. Im Zug las ich Bücher (Mole People, Chicken Soup For The Soul, Rachels Holiday), wir fuhren bis zur letzten Haltestelle und dann mit dem Auto weiter, schließlich über die dirt road. Staub wirbelte auf, und die Bäume standen hoch. Der Wald war tief und überall. Einmal fuhren wir nach Boston, und dann weiter nach Montreal, doch immer wieder zurück in den Wald, und dort war ich am liebsten. Der Sommer war flirrend heiß, üppig und düppig, mit Riesenwolken und einem Sprung in den See, direkt aus dem Garten, mitsamt Kleidern und es war mir egal, ob nun eine snapping turtle darin wohnte oder nicht, und ob die einem nun die Zehen abbiss oder nicht.

Ich fand eine Liebe, die nicht glücklich enden würde, und hörte traurige Musik. Wenn i einisch meh sött ä Stärnschnuppe gseh, am Himu über mir, ja das wo ni mir würdi wünsche, hätt nüt meh ztüe mit dir (Patent Ochsner, auf irgendeiner alten Scheibe). Heute haben meine Wünsche schon lange nichts mehr mit ihm zu tun, aber ich erinnere mich noch gut an den endlosen Sternenhimmel und die mitternachtsschwarze Nacht. Ich erinnere mich an große Feuer und erdige Hände, an wenig Schlaf und viel Verantwortung. Ich erinnere mich an den Abschied von jener Freundin, mit der ich mir Zigaretten, Geheimnisse und Gespräche geteilt hatte, und auch wenn sich unser Kontakt heute bloß noch auf Happy Birthday, hope you are well, xx beschränkt, glaube ich, dass ein winzigkleiner Teil von mir dort geblieben ist. Er blieb stehen, während das Auto langsam davon rollte, und streift noch immer durch die Wälder, beobachtet den Mond. Sichel, Voll, Sichel, Leer.

Ich studierte in Fribourg und wohnte in der Berner Altstadt. Überall alte Gebäude, Pflastersteine, Leute. Ich vermisste die Dunkelheit in der Nacht und die Weite am Tag. In Bern lernte ich Himself kennen. Etwas klickte ein. Wenn ich vor die Wahl gestellt würde, ihn morgen zu heiraten oder ihn nie mehr wiederzusehen, würde ich ihn heiraten, sagte ich meiner Schwester nach unserem ersten Date. Meine Schwester schaute mich an, als ob meine Tassen sehr kräftig wackelten und dazu ordentlich klirrten. Ich war kein bisschen verwundert, als er sich bei mir meldete und mich fragte, ob ich Lust hätte, ihn wiederzusehen und uns auf einen Kaffee oder ein Bier zu treffen. Ihn kennenzulernen war, wie an einem heißen Tag schwimmen zu gehen, oder zu essen, wenn man hungrig ist. Das Natürlichste der Welt. Eine Woche später flog ich nach Griechenland, schaute aufs blaue Meer und alles, was ich sah, war die Farbe seiner Augen. Ich glaube, ich ging meiner Freundin ordentlich auf die Nerven und wahrscheinlich war sie froh, als wir wieder in der Schweiz landeten. Himself und ich blieben zwei passende Puzzleteile. Wir geben einander Halt. Wir sind uns ein Zuhause.

Zuerst zogen wir in die Länggasse, in eine schlecht isolierte Dachwohnung mit kleinem Balkon. Von dort aus konnte ich den Mond beobachten, Sichel, Voll, Sichel, Leer. Das Stadtlicht störte die Nacht jedoch, und mich auch. Ich glaube, die Stadt tat uns nicht gut. Himself arbeitete an seinem phD, und zu viel und ich vermisste die Sterne. Zu oft saßen wir auf dem Sofa und schauten fern. Ich strudelte. Ängste kreisten um mich herum. Irgendwann kündeten wir beide unsere Arbeit, stiegen in ein Flugzeug und flogen nach Kanada, schon lange ein Sehnsuchtsort. Hier ist meine Seele zu Hause, sagte ich, in den immergrünen Regenwäldern an den Küsten von British Columbia, im Pazifik und seinen wilden Wellen, in der kühlen Luft. Meine Haare sind dort anders, meine Laune auch und ich atme tiefer. Fast vier Monate waren wir zusammen unterwegs. Und dann fast vier Monate getrennt, da ich beschlossen hatte, kochen zu lernen. In Irland. Irland ist vielleicht nicht gerade für ihre exquisite Küche bekannt, wohl aber für wunderbare Produkte. Meeresfrüchte, Fisch, Weiden so frisch und saftig wie sonst wohl nur in Neuseeland, die Kühe das ganze Jahr über draußen, herrlicher Käse, selbst irischer Chorizo. Bloß Wein gelingt nicht recht. Dennoch: Irland kann mehr als Stew und Kartoffeln. Ich wohnte in einem umgebauten Pub, neben der Kirche, und jeden Sonntagmorgen war die Straße völlig zugeparkt. Mich jedoch zog es ans Meer. Ich lernte es immer besser kennen, erkannte Ebbe und Flut am Geräusch der Wellen, glaube ich jedenfalls. Woran genau weiß ich nicht, mit der Zeit wusste ich allerdings, wo das Meer stehen würde, bevor ich es sah.

Drehe dem Meer nie den Rücken zu, sage ich heute meinen Kleinen, wenn wir am Strand sind. Überall gibt es etwas, das man beschützen will. Ich mag Irland. Ich mag das Grün, den Tau, die alten Grabsteine und noch älteren Geschichten, ich mag die Lieder und das Bier. Murphys, nicht Guinness, denn ich war im Süden, an der Küste. Ich lernte, welches Seegras essbar ist, ich lernte, wie man bei Ebbe razor clams fangen kann (ein bisschen Salz auf die verräterischen kleinen Löcher im Sand, und sie kommen heraus, da sie denken, es komme die Flut). Ich lernte, Brot und Pies zu backen, Steaks auf die Minute anzubraten, Austern zu öffnen und mich in einer lauten Küche nicht zu sehr zu stressen. Manchmal war ich kreuzunglücklich. Manchmal fühlte ich mich allein. Ziemlich oft sogar. Doch da war etwas in dieser Grünheit, das ich bis heute vermisse. Wenn der Frühling sehr regnerisch ist, und das Gras sehr grün, der Tau glänzt, die Sonne in einem bestimmten Winkel steht und der Himmel hell ist, mit schnell ziehenden Wolken, oder vielleicht einem klaren Regenbogen, da lege ich den Kopf schief und denke, ha, fast wie in Irland.

Vielleicht hat zu Hause sein weniger damit zu tun, wo wir sind, und mehr, wie wir uns fühlen. Wie gut es sich mit uns leben lässt. Wir zogen in ein Stöckli in der Nähe von Bern, mit dicken Steinmauern und unfreundlich gesinnter Nachbarschaft, jedoch einem wunderbaren Blick auf Birken und Berge. Es lag nahe am Wald, ich suche mir immer Wohnungen nahe am Wald, selbst in der Stadt. Sosehr ich mich zu Hause fühlen wollte, tat ich es trotzdem nicht. Die Umgebung war zu unfreundlich und zu viele Katzen streunten ums Haus und pissten alles voll. Nein, dies war kein Zuhause für das kleine Leben in mir. Wir zogen um, als Lily nicht mal drei Monate alt war, überall Kisten und Sorgen und wir mittendrin. Seither sind wir am selben Ort (wenn auch nicht im selben Haus) geblieben, und ich denke ihn mittlerweile als mein zu Hause. Wieder wohne ich nicht weit vom Wald und nahe einer alten Kirche, doch hier stehen nur dann viele Autos, wenn jemand heiratet, oder wenn ein Kind getauft wird. Es ist nah an der Stadt, eigentlich, und doch ganz und gar auf dem Land, mit Apfelbäumen und Pferden vor dem Fenster. Manchmal verirren sich dicke Spinnen ins Haus und im Sommer flirren die Fliegen um uns herum. Doch die Nächte sind dunkel, und ich beobachte den Mond in seinen Phasen und die Jahreszeiten, und das gefällt mir so.

Hierhin brachte ich die kleine Fee, nicht mal vierundzwanzig Stunden alt, sie hatte die Augen fest geschlossen und die Händchen auch. Wenn ich mich nach draußen setzte, und der Wind sich in den grünen Blättern des Apfelbaums verfing, öffnete sie ihre Augen. Sie schaute und schaute und ich hielt sie fest. Heute schaukelt sie am Baum und kennt seine Geheimnisse und Lily rennt herum, sie hilft im Stall, ihre Füße sind dabei fest auf dem Boden, und das gefällt mir so.

Share this Post

Kommentar verfassen