Videotagebuch Frühling am Fluss. Ausserdem: der kalte Föhn. Und andere Alltagsgeschichten.

Meine Socken sind wieder nass, aber diesmal, weil ich durch den Schnee jogge. Schnee im April. Es sind dicke Flocken, die sich bald schon in Regen verwandeln. Jedenfalls sind meine Socken nass, die Bise kalt. Lily nennt sie den kalten Föhn. Es ist die Zeit für Frühlingsfeste. Sie erzählen Verwandlung und Neuanfang, und vom Ausbruch aus Gefangenschaft. Während ich renne, versuche ich abzuhängenden, was mich gefangen hält, rüttle an inneren Gitterstäben. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Kurz rennen Rilke und sein Panther mit. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannter Stille – und hört im Herzen auf zu sein.

Ich hänge sie ab. 

Zu Hause wartet das übliche Chaos, die Spielkarten, die ich eben erst aufgeräumt hatte, liegen wieder über den ganzen Küchenboden verteilt, die Frühstücksteller stehen noch auf dem Tisch, die Fee hat Hunger und Lily sucht verzweifelt das Halfter für ihr Spielpferd. Die Frische, die sich eben noch in meinen Haaren verfangen hatte, löst sich auf. Ich suche nach Halftern, ich koche, nach dem Essen wischt Himself den Boden und murmelt dabei leise, dass wir uns wirklich einen Hund kaufen sollten. 

Der Alltag ist eine Tretmühle, immer wieder gleich, ich ständig in Bewegung für einen lahmen Status Quo. Zurück auf Anfang, draußen scheint die Sonne, Regen prasselt aufs Dach, der Wind rüttelt an der Tür, ein Regenbogen zeigt sich vor dem Fenster. Vier Felder nach vorne, drei zurück. Die Segel hangen durch und ich auch. Manchmal, an einem weiten Sonntagnachmittag, wenn sich der Himmel ausbreitet, und Himself Kaffee kocht, bereitet sich auch eine Müdigkeit aus, die mich erschreckt. Ich werde selbst zum lahmen Status Quo, und bleibe liegen, auf dem Sofa, in der Hängematte und die Wolken ziehen vorbei. Erschöpfung zeigt sich, wo viel Arbeit ist, aber nur wenig Fortschritt. In der Tretmühle, also, im Alltag.

Doch Gift und Gegengift wachsen nahe beieinander. Das Gegengift gegen Tretmühlerei und Alltagskummer ist die Freude. Sie lebt im Kern, dort etwa wo zwei Mädchen den Tag begrüssen, oder in ein Spiel finden, wo ein neues Wort gesagt wird, und eine Idee sich formt. Sie wächst überall, wie Unkraut, sie wächst wenn wir Momente leben, uns in einer Melodie verlieren, oder in einem Gedanken.

Dir Mädchen spielen zusammen auf dem Teppich, ein relativ neues Phänomen. Schleichpferde liegen überall verteilt, die Fee legt sie flach auf den Boden. Schlafen sie? fragt Lily. Die Fee schüttelt energisch den Kopf. Tot! ruft sie. Tot! Tot! Habe ich mich gerade verhört? Jedenfalls spielen sie, und ein Zeitfenster öffnet sich, davor ein weiter Himmel, Tulpen, der Duft von frischem Gras und Frühling. Ich schreibe. Gut, ich schaffe maximal eine Seite, dann steht Lily erbost vor mir. Die Fee spielt ständig, die Pferde seien tot, beschwert sie sich entsetzt. Das Fenster schließt sich. Ich öffne die Terrassentür. Die Mädchen schlüpfen in ihre Stiefel und Jacken. Spatzen zwitschern, der kalte Föhn bläst, ein Rabe fliegt faul übers Feld. Die Mädchen ziehen zum Sandkasten. Ich lese. Maximal eine halbe Seite. Dann hält die Fee mir eine kleine gelbe Schaufel hin. Häufe! meint sie. Mit Bestimmung. Eine WhatsApp flattert herein. Wu wei – chinesisch, Verb. Zum richtigen Zeitpunkt nichts zu tun, steht darin. Genial, denke ich, genial, genial. Hätte ich doch darauf gehört, als ich heute, müde, genervt und zähneknirschend versucht hatte, Ordnung ins Alltagschaos zu bringen.

Himself kommt nach Hause. Gründonnerstag. Zeit! Mit Ostern kommt der Frühling. Blumen, Knospen, Blüten, sogar Mauersegler, unten an der Aare. Später, als wir auf auf der Terrasse ein Glas Wein trinken, entdecke ich die ersten Schwalben. Lily ist beeindruckt vom nachtaktiven Osterhasen, sie freut sich kringelig, wenn sie an immer neuen, unerwarteten Orten bunte Schokoladeneier findet. Sogar im Küchenschrank hat er welche versteckt, erzählt sie mir, kurz vorm Einschlafen, die bleiben für immer in meinem Herz. Die anderen aber sind in meinem Körper verschwunden.

Ich muss lachen. Beide Mädchen husten. Entsprechend schlecht ist die Nacht. Der weite Frühlingshimmel wird zu einer schweren grauen Kuppel. Ich denke über Zeit nach, über wu wei, und andere schöne Worte. Eines, das besonders zu mir spricht, ist zu Hause. In der weiten dunklen Zeit fangen die Buchstaben an zu tanzen, und ich fange an zu schreiben, über Orte, die mal ein zu Hause waren. Vielleicht erzähle ich bald davon. Doch jetzt ziehe ich mich erst mal in die Badewanne zurück.

Wu wei.

Und macht`s gut.

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1 Kommentar

  1. ‚Wu wei‘

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