Am Horizont: Veränderung

Die Stühle waren unbequem, auf die Weise, die man zuerst nicht bemerkt; einem jedoch nach einer halben Stunde die Sitzbeinhöcker einschlafen. Kindergarteninformationsanlass. Ein Wort, fast so lang wie die Donaudampfschifffahrtsirgendwas. * Die unbequemen Stühle standen in einem Halbkreis, vorne ein Projektor und eine PowerPoint Präsentation. Die Freude saß ganz hinten, in der hintersten Reihe. Sie kaute Kaugummi und stellte ihre Füße auf einen leeren Stuhl. Ohne die Schuhe auszuziehen. Vorurteil hockte jedoch mit gezücktem Stift und geradem Rücken in der ersten Reihe.

Ehrlicherweise fällt es mir schwer, mit vorbehaltloser Freude auf die Schule zu schauen und auch auf die PowerPoint, die uns darüber informieren will, welche Anforderungen im kommenden Sommer an die Kinder gestellt werden. Nicht hilfreich ist, dass meine Arbeit mit Schule zu tun hat, und ich viele Lehrerzimmer kenne, viele Kinder und ihre Eltern und ebenso viele Geschichten. Einige davon sind wunderbar, so manche allerdings nicht. So sassen sie trotz der selbstverordneten, extra grossen Portion Offenheit mit mir auf den unbequemen Stühlen, mit eingeschlafenen Sitzbeinhöckern und großen Fragen: Vorurteil, Freude, Zweifel, sich Anpassenwollen, Unsicherheit – und sie alle flüsterten wild durcheinander. Und mir ins Ohr.

Beginners Mind dachte ich mir. Wie geht der nochmals? 

Der erste Schritt ist wohl, erstmal all diese inneren Stimmen willkommen zu heißen, die großen Fragen und auch die Traurigkeit. Denn bald ist unweigerlich Zeit, unsere kleine, sorgfältig aufgebaute Welt zu öffnen. Noch sieben Monate, rechne ich mir aus. Noch sieben unvollkommen vollkommene Monate, die uns gehören. Die Zeit rennt schnell, als wäre sie noch sehr jung oder sehr sportlich. Sie rennt durch den Winterwald, Dampfwölkchen und alles, sie rennt, als würde sie für einen Marathon trainieren. Nicht mehr lange und der Wald trägt Knospen und Blüten und helle Blätter und die Zeit rennt trotzdem weiter. Dann, noch bevor die Blätter bunt werden und herunterfallen, ist sie für immer anders, die kleine unvollkommen vollkommene Welt.

Lily freut sich riesig auf den Kindergarten. Eine frische, mächtige, ungeduldige und noch ungetrübte Freude.

Ist endlich Sommer?

Wie heißt meine Lehrerin?

Darf ich bald schnuppern gehen?

In welche Klasse komme ich? 

Ist jetzt Sommer?

Sie mag nicht mehr warten. Ich hingegen nehme den Bleihimmel und den Wintersturm gerne an, denn sie schenken mir noch ein kleinwenig Zeit, ohne die Anforderungen, ohne frühes Aufstehen und langen Schulweg, ohne umgekrempelten Tagesablauf, ohne den schnell wachsenden Einfluss von außen. Denn bei diesem Tempo ist eines klar: Schwupps, und sie ist vorbei. Die Kleinkinderzeit. Die langen Morgen, die nur uns gehören, mit Regen auf dem Dach und kalten Füssen und zu spät angezogenen Wollsocken. Mit Toastfrühstück und Geschichten und Liedern.

Ich übe mich im Dinge auf mich zukommen lassen. Gibt es Einhörner? fragt Lily mich da unvermittelt.

Wenn man an sie glaubt

Also, ich glaube bloß an Pferde, antwortet sie und kramt dann in ihrer Schublade, sie sucht sich ihre Kleider raus. Die Ärmel enden an den Ellenbogen, die Beine am Knie.

Die geschrumpfte Zeit

Lily spürt das Schrumpfen wohl auch. Ich will nie weg von dir, meint sie plötzlich, mehrmals und mit Nachdruck. Nie, nie, will sie wieder und wieder von mir hören und erst wenn du viel älter bist und mehr Welt willst, gar nicht.

Du bist noch lange, lange, lange bei mir, und die Fee auch.

Ein Aufatmen.

Danke für die Einhörner, sagt sie dann. 

Für welche, frage ich zurück. 

Für jene, dies noch gibt.

*Donaudampfschifffahrtselektrizitätenhauptbetriebwerkbauunternehmerbeamtengesellschaft. Dagegen ist Kindergarten ja eigentlich ein ganz überschaubares Wort, findet ihr nicht auch?

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2 Kommentare

  1. Wieder ein neuer Lebensabschnitt – eine Zeit des Loslassens. Wie gut, dass es Einhörner gibt. Liebe Grüße zum Abend, Susanne

    1. Das habe ich mir auch gedacht 😉

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