Nachtkilos – oder warum sich meine Texte manchmal traurig lesen

Meine Texte seien so traurig, wird mir gesagt und ob es mir gut gehe, werde ich gefragt. Sind sie das? wundere ich mich. Vielleicht ein bisschen, vielleicht weil ich meistens mitten in der Nacht schreibe, oder kurz bevor sie sich ausfranst und in den Tag rutscht. In der Nacht wiegt die Welt bekanntlich einige Kilos mehr. Sie dreht sich, langsam und dunkel und schwer, all die ungeträumten Träume im Schlepptau. Gespenstisch sieht es aus und klingen tuts wie Walgesang. Also blinzle ich mehr, als dass ich zwinkere. Der Morgen zaubert all die überschüssigen Kilos wieder weg, ein verflixter Melatonin Yoyoeffekt, so alt wie die Zeit. Im Flur treffe ich auf Unordnung und Socken. Zum Glück sind sie geduldig, also lasse ich sie liegen und öffne stattdessen meinen Laptop. Im Posteingang erwarten mich Videos, die meine Schwester mir geschickt hat. Sie sind alt, beziehungsweise wir noch sehr jung. Ich klicke und sie flackern auf, verpixelt und fröhlich. Lily kann sich nicht sattsehen, besonders an jenen Videos, in denen ihr Opa zu sehen ist. Sie kannte ihn bisher bloß aus Fotos, nennt ihn nun jedoch Opa mit den lebendigen Augen. Die weite, grosse Lücke rückt etwas zusammen, zusammengeschnittene Momente, festgehalten mit einer wackligen Kamera. Es ist eine seltsame Zusammenstellung. Opa mit den lebendigen Augen, wie er an einem längst vergangenen Weihnachtsabend mürrisch Salat wäscht. Opa mit den lebendigen Augen, wie er mit Warnweste am Tisch sitzt (Opa mit den lebendigen Augen trug eigentlich nie Warnwesten), ein Kreuzworträtsel löst und sich wundert, wie man Giacobbo wohl schreibt. Ich mich ehrlich gesagt auch. Zwischen Warnweste und Salatschleuder gibt es immer noch viel Leere. Sie füllt diese, mit herrlichen, wild zusammengeflunkerten Geschichten. Diese erzählt sie mir beim Insbettgehen. Mein Opa hat gesagt, beginnt sie und in jener Stimme, mit der sie die ganz wichtigen Dinge erzählt.

Mein Opa hat gesagt, dass Einhörner sterben, wenn man gross wird. Mein Opa hat gesagt, in der Stube tanze man ohne Schuhe. Er habe ihr die Zahl 5 beigebracht und sei bei ihr gewesen, als sie noch hinter dem Mond Sandburgen gebaut habe; er jedoch habe gebacken. Sie durchsucht die Vergangenheit und zieht an losen Enden und Fäden. Ich schmeisse die geduldigen Socken in die Wäsche, suche verlorengegangene Puzzleteile und finde dabei mein Portemonnaie. Wie gehen einkaufen. Es ist kalt, der Himmel ein helles Winterblau, überall Dampfwolken und Kinderlieder. Sie tanzen in der frischen Luft. Die Geschäfte sind mit Weihnachten und Schokolade vollgestopft und so manöveriere ich mich schwitzend und mit dickem Schal durch die engen Gänge. Lily will für ihre Freundin ein Geschenk kaufen, ein Pferd mitsamt Fohlen. Also ein Schleichpferd, das ist, kein echtes. Sie trägt es wie einen kostbaren Schatz durchs Geschäft. Ich mache andern gern eine Freude, sagt sie, da bin ich wie Rosa Rosenherz. Am liebsten möchte ich sie drücken, doch das findet sie blöd, also nenne ich sie bloss Golde Goldherz.

Komm, wir spielen, du bist Expertin über Knabstrupper, sagt sie mir. Ich weiss nicht mal, wie man Knabstrupper schreibt. Knappstupper? Knapstrupper? Wie soll ich da Expertin sein? Und sowieso, was ist denn los, ist heute der Tag der schwierigen Wörter? Jetzt die Quizfrage, meint sie und ich schaue hilflos genug drein, damit sie mir diese netterweise vorgibt. Sind sie Antwort A: gepunktet oder Antwort B: gestreift?

Ich kann nicht Knappstrupper – Expertin sein, ich weiss nicht mal, wie man sie schreibt, lässt sie nicht gelten und souffliert mir eifrig weiter. Die Müdigkeit tanzt wie Schnee in Kugeln. Auch die Kinderlieder tanzen wieder, Golde ebenso. Die Fee schläft nochmals ein, draußen färbt der Abend die Schneelandschaft in kühles Pastell. Ich zupfe an losen Fäden und Enden und fadenschlage sie an die Ränder der Winternacht. Diese wuchtet sich nun an, schnaufend und sicher hundert Kilo schwer. Wie soll ich da schlafen, mit den nicht erzählten Geschichten, dem Fadengeschlagten und dem Walgesang? Also tippe ich ins Handy, Blaulicht und blaue Stunde, Vergangenes und Vergänglichkeit, alte Videos voller Jugend, voller Leben und Fröhlichkeit. Die Nachtzeilen geraten wegen der hundert Kilos in Schieflage und rutschen ins Moll, und das Melatonin macht sie manchmal melancholisch. 

Doch es geht mir gut. Gute Nacht ✨

Sisteract. Am Klavier: Opa mit den lebendigen Augen
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5 Kommentare

  1. melancholisch? vielleicht … aber sicher poetisch auf eine ganz spezielle Art.

  2. Melancolisch, poetisch, tiefsinnig, wunderschön, berührend, erinnernd. Danke, dass ich mich an einem dieser Fäden halten darf.

    1. Danke. Und schön, dass du einen dieser Fäden hältst.

  3. Liebe Nina, das Video von Euch hast Du wohl später reingestellt. Da kommt Freude auf, Euch Schwestern zusammen tanzen zu sehen. DIrk und ich tanzen auch so gerne in der Küche. Ich schicke Dir mal ein Küßchen zum neuen Jahr durch das Stormgebrus hier im Norden

    1. Ich sollte wohl öfter mal wieder in der Küche tanzen. Hoffe ihr habt einen guten Tag – und das Stormgebrus wird nicht zu wild. Auch dir ein herzliches Neues Jahr 💕

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