Verlorene Rituale und seltsame Kinderlieder

Das helle Mittagslicht sucht sich den Weg in unser abgedunkeltes Schlafzimmer und bildet tanzende Schattenbilder. Es ist Zeit für Lilys Mittagschlaf. Eigentlich. Sie hat andere Pläne, heute schon wieder… Eben musste sie noch ganz dringend ihren Esel mit Wasserfarbe bemalen. Einen Turm bauen. Auf der Matratze hüpfen. Sich ein Buch erzählen lassen. Kurz kuschelt sie sich zwar zu mir, und schliesst die Augen. Ich versuche, den Moment einzufangen und aufzuhalten, obschon ich weiss, dass es mir nicht gelingen wird. Sie wird gross. Schnell. Und jeden Tag ein bisschen anders.

Das Neuste also: Mittagsschlaf ist doof. Neeeeeiiiiiiin! Ich vermisse diese friedliche Stunde jetzt schon gewaltig, nicht nur die Pause, die mir geschenkt wurde, sondern auch dieser kurze kostbare Moment, einfach wir zwei und die weite Nachmittagszeit, sogar ihr ellbögelen vermisse jetzt ein bisschen. Sie hüpft davon, und schüttelt dabei das klitzekleinebisschen Schlaf ab, das sich unbemerkt doch noch an sie hängen wollte. Bybebye Mama, ruft sie und winkt mir zu. Ich wünschte mir, die Zeit würde ein bisschen langsamer laufen, nur ein kleines bisschen, und denke an den Nebel, der sich um unsere Fenster wickelt und an den Silberreiher, der zurückgekehrt ist, alles Zeichen, dass der Sommer vorüber ist, auch wenn er es uns lange noch was anderes glauben machen wollte.

Lily bringt mir das Schweizer Kinderliederbuch. Manche Dinge ändern sich glücklicherweise nicht so schnell. Das ist ein seit eh und je ihr Bücherfavorit. Ehrlicherweise finde ich den Schluss von myre Latärne jedoch etwas seltsam: eh eh eh la pimmel la pimmel la pumm. Hä? Ernsthaft? Anstelle des Originaltextes singe ich immer ganz prüde: la luna, la lune, dr Mond. Hahaha. Und warum heisst es: Ringel Ringel Reie, d Meitschi göid Meie, d Buebe göid Haselnuss u mache alli husch husch husch. Gabs da keinen Busch, wo die Buben hineingehen konnten? Irgendeinen? Gut, mir ist die Haselnussvariante immer noch lieber als die englische, denn die klingt irgendwie nach Grippesymptomen, bisschen heikel aktuell… ring a ring a rosies, a pocket full of posies, a tishoo, a tishoo, we all fall down…

Egal. Das Schweizer Kinderliederbuch ist jedenfalls komplett verblättert, der Einband herausgerissen und die eine oder andere Seite herausgerupft, dass man meinen könnte, ich hätte eine fünfköpfige Rasselbande daheim. Jetzt will sie, dass ich ihr einen ihrer Langzeitfavoriten singe: „au clair de la lune….“ beginne ich. Bei der letzten Strophe runzle ich zu aller Jodelei die Stirn 

Au clair de la lune,
On n’y voit qu’un peu.
On chercha la plume,
On chercha le feu.
En cherchant d’la sorte,
Je n’sais c’qu’on trouva ;
Mais je sais qu’la porte
Sur eux se ferma…

Was ist bloss los mit diesen Kinderliedern? Nicht grad la Pimmel, la Pimmel, aber doch ganz schön ou la la! Lily ist dies egal, und auch, dass ich neben den Tönen vorbei singe.

Am allerliebsten mag si heile, heile Säge und streichelt dazu stolz ihr eigenes Pflaster, das sie partout nicht mehr loswerden will und an dem ich misstrauisch schnuppere, wenn`s anfängt zu stinken muss es weg, warne ich sie vor. 

Vielleicht werden uns Dinge und Rituale deswegen so kostbar, weil wir bereits wissen, dass wir sie irgendwann loslassen müssen. Loslassen ist Abschiednehmen. So sehr ich auch festhalten will, gelingt es mir nicht, die Erde dreht sich unaufhörlich, das Licht wandert weiter, der Sand läuft durch die Finger und schon funkelt der erste Stern. 

Loslassen braucht wohl eine gewisse Leichtigkeit, wie wenn man einen bunten Ballon steigen lässt. Mit Freude, denn Loslassen bringt auch Raum. Für Neues. Funkelndes.

Noch Verborgenes.

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