Das grosse Glück

Was? Schon viertel nach neun? gähnte ich und nahm noch einen Schluck Mineralwasser. Wann bin ich eigentlich eine Schlaftablette geworden? fragte ich mich und stellte erleichtert fest, dass sich auch meine Freundin Scone ein Gähnen unterdrückte. Gut, vielleicht lags auch an der Schlaftablette, die ihr gegenübersass. Scone und ich, wir kennen uns schon EWIG, da tranken wir in Plastikflaschen abgefüllten Alkohol und schlugen uns auf Parties die Nächte um die Ohren.

Zusammen sind wir «weniger jung» geworden. 

Das Leben hat sich teilweise schleichend, teilweise knallartig verändert. Im Freibad schwimme ich jetzt selten Längen, sondern lungere beim Kinderbecken rum. Statt ins Museum gehe ich auf den Spielplatz, statt aufs Konzert lieber ins Bett, statt grosses Kino gibt’s Netflix. Irgendwie begann ich schleichend Party gegen Pijama und Tanzfläche gegen Sofa auszutauschen. Früher, vor gefühlten Lichtjahren mal, ging ich nach Hause, wenn die Bar schloss – heute, wenn sie öffnet. 

Und ehrlicherweise waren Scone und ich schon eher immer die Tearoomtypen. (Sagt man das heut noch, Tearoom? Ich liebte das schon als Kind, wenn wir ins tiirum gingen und ich liebe es noch heute. Nicht die trendigen Kaffeebars, sondern die guten alten tiirums, mit Tapete und Holzstühlen und belegten Brötchen. Vielleicht eröffne ich mal eines und nenne es Tiirum! Aber, ich schweife ab).

Jetzt, da ich «weniger jung» bin und sehr weise, jetzt, da ich auf dem Land lebe und «Hausfrau» bin (so ein doofes Wort!) aber ja, tatsächlich meist zu Hause und weg von einer pulsierenden Stadt und Museen und Konzerten und Kinos (ja, ich meine Bern, und ja, ich weiss, pulsierend ist masslos übertrieben, hihi, aber ihr wisst, was ich meine), jetzt glaube ich, das grosse Glück findet sich in den kleinen Dingen. Im ersten Schluck Kaffee aus einer besonders schönen Tasse, im Morgennebel, der sich langsam lockert, in einem neuen Wort, das Lily plötzlich sagt, in einem Gespräch mit Scone, oder genau dann, wenn Himself plötzlich meine Hand nimmt und sie drückt, dann, wenn ich auf einem Berggipfel stehe und sehe, wie die Sonne aufgeht. Das grosse Glück sammelt sich an, aus vielen kleinen kostbaren Momenten, wie ein Glas voller bunter Glücksmarmeln. Das grosse Glück ist wohl, die Glasmarmeln zu sammeln, die einem besonders glücklich machen. Das grosse Glück ist, in einem Tearoom zu sitzen und einen kitschigen Text zu schreiben.

Also genau jetzt. 

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4 Kommentare

  1. „Zusammen sind wir «weniger jung» geworden. “ – Welch herrliche Formulierung!

    Mein Vater sprach „Tearoom“ immer wie einen Eigennamen aus, also in etwa Thea Rohm, weshalb wir Kinder ihn dann daoch irgendwann verwundert fragten, wer diese Frau denn sei und woher er sie denn überhaupt kenne … – die gute alte Zeit eben.

    Was wünschen tu und auf weitere hübsch kitschige Texte aus besagtem Raume, LuxOr

    1. Ja die gute alte Thea Rohm😊 Vielen Dank dafür!

  2. Liebe ‚kitschige‘ Tearoom- Geschichten!

    Da sitze ich gleich wieder bei meiner Oma in der Küche .
    Da steht das blaue Geschirr auf dem Tisch, der Hefezopf duftet im Ofen.
    Ich liebte den Moment, wenn sie den Tee eingoß und der Kandis knisterte.
    So tranken wir den Tee hier oben im Norden und mit einer Milchwolke.

    Eine Glücksmarmel im Lebensglas von Einer, die im Herzen immer jung bleibt, wenn auch die Knochen schon eine andere Geschichte erzählen.

    Danke für die schöne Erinnerung

    1. Wie schön deine Erinnerung klingt!

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