Von kleinen Abschieden, einem Vogel und der grossen Freiheit

Lily betrachtet sich auf einem Foto. MI! MIMI! meint sie dann und streichelt sich den Bauch. Ich bin zu gleichen Teilen stolz und erschrocken. Sie ist Mi! Sich selber! Zum ersten Mal nennt sie sich selbst nicht Mama. Gerade hat sie einen lockeren Schritt aus dem grossen Uns genommen. 

Ich freue mich. Auch wenn mich dieser kleine Abschied auch ein klitzekleinwenig traurig macht. 

Ein kleiner, schöntrauriger Abschied. 

Ich beschliesse, dass es Zeit wird für unsere Runde. Die Winterstiefel passen ihr kaum noch, bald schon werden sie zu klein sein. 

Draussen ist es hell und klar und frisch. Ein Band flattert im Wind. Die Vögel zwitschern, eine Krähe fliegt etwas faul übers Feld, zwei Mädchen spazieren mit einem schwarzen Hund vorbei. Lio,lio! ruft Lily ihnen nach. Sonst sehen wir niemanden. Doch, weiter drüben beim Feld grasen einige Kühe.

Wir kommen zum Haus mit der grossen Vogelvolière. Ein Papagei sitzt drin, gelangweilt. Durch den engmaschigen Zaun betrachtet er uns. Und kräht laut. Mir flattern Worte in den Kopf 

A free bird leaps

on the back of the wind

and floats downstream

till the current ends

and dips his wing

in the orange sun rays

and dares to claim the sky

but a bird that stalks

down his narrow cage

can seldom see through 

his bars of rage

his wings are clipped and 

his feet are tied

so he opens his throat to sing

The caged bird sings

with a fearful trill

of things unknown 

but longed for still

and his tune is heard

on the distant hill

for the caged bird

sings of freedom 

* * *

– aus Maya Angelou «Caged Bird» from Shaker, Why Don`t You Sing?

The Complete Collected Poems of Maya Angelou (Random House Inc, 1994)

Tut mir leid, sage ich zum Papagei. 

Wir gehen weiter. Lily und ich, wir zwei, gerade wieder eine kleine Einheit, Schritt für Schritt unter der hellen Sonne, wir gehen nach Hause. 

Dort ist Lily eingeschlafen. Ich bin stolz auf dich, flüstere ich ihr zu. Und ich will, dass du der wildeste freie Vogel sein kannst, der wildeste freie Vogel, den ich mir denken kann. 

Dann koche ich Kartoffelbrot und Reste von Gestern und geniesse diesen stillen Moment ganz für mich allein.

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2 Kommentare

  1. liebe nina, nur ein klitzekleiner schritt, aber wir wissen‘s alle, es werden immer weitere folgen. es gilt den moment zu geniessen, aber das machst du ja auch!! wieder ein ganz schöner beitrag!! mit herzlichen grüssen und guten wünschen, d.m.

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